Fehlende Kontrolle und keine Weisungen – Berliner Kammergericht verurteilt Aufsichtsräte zu Schadensersatz in Millionenhöhe

Fehlende Kontrolle und keine Weisungen – Berliner Kammergericht verurteilt Aufsichtsräte zu Schadensersatz in Millionenhöhe

Das Kammergericht Berlin (also das Berliner Oberlandesgericht) hat zwei Aufsichtsräte zu Schadensersatz in Millionenhöhe verurteilt (Az. 2 U 108/18 – zum Urteil gehts hier…), weil sie den Vorstand nicht zum Stellen eines Insolvenzantrags bewegt haben und ihre Kontrollaufgaben nicht ordnungsgemäß wahrgenommen haben. Das Kammergericht stellt klar, dass die Aufsichtsräte sich nicht nur auf die Berichte des Vorstands verlassen dürfen, sondern selbst kontrollieren und plausibilisieren müssen.

Rechtsgrundlage sind die Regelungen der §§ 116 und 93 AktG. Demnach orientieren sich die Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder an den Pflichten des Vorstands. Der Aufsichtsrat hat kurz gesagt sicherzustellen, dass der Vorstand sauber arbeitet und alle Kontrollmechanismen einhält. Und der Aufsichtsrat hat Verstöße des Vorstands gegen seine Sorgfaltspflichten zu verhindern. Dies greift das Gericht auf und konkretisiert die Pflichten des Aufsichtsrats. Hier einige wesentliche Feststellungen des Kammergerichts:

  • Der Aufsichtsrat hat gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Pflicht, die Geschäftsführung zu überwachen. (…) Erscheinen die Berichte unklar, unvollständig oder inhaltlich unrichtig, hat der Aufsichtsrat nachzufassen und ggf. eigene Nachforschungen anzustellen (Habersack in: 5. Aufl. 2019, § 111 AktG, Rn. 55). Der Aufsichtsrat muss sich dabei ein  genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verschaffen und insbesondere in einer Krisensituation alle ihm nach §§ 90 Abs. 3, 111 Abs. 2 AktG zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen.“

 

  • „Den Aufsichtsrat trifft überdies die Pflicht, Verstöße des Vorstands im Sinne des § 93 Abs. 3 AktG zu verhindern (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07; OLG Brandenburg, Urteil vom 17. Februar 2009 – 6 U 102/07, beide zitiert nach juris; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 111 AktG, Rn. 15). Ist die Lage der Gesellschaft angespannt oder bestehen sonstige risikoträchtige Besonderheiten, so muss die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrates entsprechend der jeweiligen Risikolage intensiviert werden (OLG Düsseldorf, Urteil vom 31. Mai 2012 – I-16 U 176/10, zitiert nach juris). Die Pflicht zur eigenen Urteilsbildung betrifft auch nicht nur den Aufsichtsrat als Gesamtorgan, sondern jedes einzelne Mitglied (OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012 – 20 U 3/11, zitiert nach juris; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 111 AktG, Rn. 15 m. w. N.). Stellt der Aufsichtsrat fest, dass die Gesellschaft insolvenzreif ist, hat er darauf hinzuwirken, dass der Vorstand rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt und keine Zahlungen leistet, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht vereinbar sind; erforderlichenfalls muss er ein ihm unzuverlässig erscheinendes Vorstandsmitglied abberufen (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07, zitiert nach juris).“

 

  • „Das Aufsichtsratsmitglied muss nach §§ 116, 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch selbst darlegen und beweisen, dass es seine Pflichten erfüllt hat oder dass ihn jedenfalls an der Nichterfüllung kein Verschulden trifft (BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07, zitiert nach juris). Es ist damit darlegungs- und beweispflichtig für das Vorhandensein eines Informationssystems und dessen sachgerechte Ausgestaltung (vgl. §§ 93 Abs. 2 Satz 2, 116 AktG; hierzu BGH, Urteil vom 1. Dezember 2008 – II ZR 102/07, zitiert nach juris). Fehlte ein nach Sachlage erforderliches und geeignetes Informationssystem, so sind dafür auch die Beklagten aufgrund ihrer Überwachungsaufgabe als Aufsichtsratsmitglieder verantwortlich (§§ 116, 111 AktG).“

 

  • „Schließlich können sich die Beklagten auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Wirtschaftsberater der Gesellschaft, Dr. K., ebenfalls keine Insolvenzgründe erkannt habe. Der Kläger hat schon bestritten, dass Herrn Dr. K. überhaupt mit einer derartigen Prüfung betraut worden sei. Insoweit fehlt es aber an jeglichem Vortrag der Beklagten, weshalb der Wirtschaftsprüfer Dr. K. trotz der Zahlungseinstellung und des erheblichen nicht gedeckten Fehlbetrages zum Stichtag 31. Dezember 2013 dennoch davon hat ausgehen können, dass Insolvenzgründe nicht vorliegen. Überdies obliegt den Mitgliedern des Aufsichtsrates gerade eine eigene, von dem Vorstand unabhängige Prüfpflicht.“

 

Auch wenn es sich bei diesem Urteil um eine Entscheidung im Zusammenhang mit der Insolvenzantragspflicht handelt, sind die Grundsätze auf alle Geschäftsumstände einer Gesellschaft anzuwenden – beispielsweise auch bei steuerlichen Auffälligkeiten oder bei Betrugssystemen im Unternehmen.

Die Feststellungen des KG sind alle an sich nicht bahnbrechend neu, aber die Kombination dieser verschiedenen Aspekte führt zu einer deutlichen Verschärfung der Pflichten des Aufsichtsrats. Das Urteil wird aber quasi als Auftakt oder Verstärker für eine verschärfte Diskussion der Professionalisierung der Aufsichtsräte gesehen. Professor Dr. Daniel Graewe schreibt dazu in der NZI vom 02.07.2021: „Vor diesem Hintergrund erscheint die schon lange geführte Debatte über die Notwendigkeit zunehmender Professionalisierung der Aufsichtsgremien einmal mehr als längst überfällig.“ (NZI 2021, 619).

BLTS-Rechtsanwalt Jürgen Steinhofer dazu: „Die Aktiengesellschaft bietet vielen Mittelständlern gute Lösungen für Ihre Geschäftsmodelle, beispielsweise wenn es um die Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmen geht oder Investoren eingebunden werden sollen. Leider werden die Aufsichtsräte dann aber nicht mit geeigneten Personen gesetzt – es zählt weniger die Kompetenz als mehr die Verwandtschaft oder die Bereitschaft, die Entscheidungen des Vorstands zu unterstützen. Das muss und wird sich ändern, Aufsichtsräte müssen eigene Kompetenzen aufbauen und vor allem eigene Beratungsstrukturen etablieren, um nicht selbst in die Haftung zu kommen.“

Auch Rechtsanwalt Jörg Meyer, Fachanwalt für Strafrecht, hält eine Absicherung der Aufsichtsräte für zwingend erforderlich: „Wenn Aufsichtsräte immer mehr in die Pflicht genommen werden, das Handeln des Vorstands zu kontrollieren und ihn zum rechtmäßigen Vorgehen zu zwingen, dann ist der Schritt zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder nicht mehr weit. Auch zur Abwehr von Strafvorwürfen ist es zwingend erforderlich, sauber dokumentiert alles zu prüfen, was möglich ist und sich bestenfalls eine externe Meinung durch spezialisierte Berater einzuholen.“

Wenn Sie Fragen hierzu haben, sprechen Sie uns gerne an!